„Further and Further Away“ – ein Film über Umwelt und Identität in Kambodscha

Interview

Der Kurzfilm „Further and Further Away“ (Chhngai Dach Alai), der dieses Jahr auf der Berlinale gezeigt wurde, erzählt die Geschichte von einem Geschwisterpaar, das der Bunong, einer ethnischen Minderheit in Kambodscha, angehört. Nachdem das Dorf ihrer Familie im ländlichen Kambodscha wegen des Baus eines Staudamms umgesiedelt wurde, verbringen sie einen letzten Tag in ihrem Dorf, bevor sie sich auf der Suche nach einem wohlhabenderen Leben in die kambodschanische Hauptstadt Phnom Penh begeben. Wir sprachen mit Regisseur Polen Ly und Produzent Daniel Mattes darüber, wie der Film entstanden ist, über Jugend in Kambodscha und die Möglichkeiten des unabhängigen Filmemachens im Land.

Das Geschwisterpaar aus dem Film Further an Further Away
Teaser Bild Untertitel
Der Kurzfilm erzählt die Geschichte von einem Geschwisterpaar in Kambodscha.

Elaine Haller: Warum hast Du Dir für den Kurzfilm genau dieses Thema, den Bau von Wasserkraftwerken und die damit verbundenen Vertreibungen, ausgesucht?

Porträt von Polen Ly
Der Filmemacher Polen Ly.

Polen Ly: Ich habe bereits seit 2014 an einen Dokumentarfilm in einem indigenen Dorf gearbeitet, das durch den Stausee [des Lower Se-San-II-Staudamms] zerstört wurde, und hatte schon viele persönliche Geschichten der Menschen dort gehört. Aber mich interessierte nicht nur der Bau des Staudamms, der das Dorf 2017 überflutete. Vielmehr ging es mir darum zu zeigen, wie durch das Bauprojekt die Beziehungen der Dorfbewohner*Innen zerbrachen. Im Zeitraum von 2014 bis 2017 nahmen die meisten von ihnen die angebotenen Entschädigungen an und zogen in ein Umsiedlungsgebiet. Nur 53 Familien weigerten sich weiterhin und blieben vor Ort. Sie wollten ihre Lebensweise nicht aufgeben oder ihre bewährten Lebensgrundlagen verlieren. Ihnen war klar, dass sich ihr traditioneller Lebensstil völlig verändern würde, wenn sie aus dem Dorf wegziehen würden.

Als ich mich für die Dreharbeiten in der Gegend aufhielt, herrschte eine dynamische Mischung aus Liebe und Hass zwischen den zwei Gruppen, die früher zum Dorf gehörten. Die eine Gruppe will mit der Vergangenheit abschließen und sich auf die Umsiedlung einlassen, um nicht in Konflikt mit den Behörden zu geraten. Die andere Gruppe steht immer noch dafür ein, unabhängig ihren Lebensunterhalt gemäß ihrer Tradition vor Ort zu sichern. Diese Dynamik brachte mich dazu, einen Kurzfilm zu schreiben, der die Geschichte dieser zerrissenen Beziehungen in einer eher fiktionalen Form erzählt. Die beiden Hauptdarsteller*Innen [ein Bruder und eine Schwester] symbolisieren die Spannung zwischen einer traditionellen Lebensweise und dem Fortschritt, der Entwicklung sowie einem modernen Lebensstil. Ich glaube auch, dass der Film die Geschichte unserer heutigen Welt erzählt, in der es zwei Meinungslager gibt - eine Gruppe, die sich für ein sehr schnelles, materialistisches und fortschrittliches Leben entscheidet und einer Sache nach der anderen hinterherjagt, und eine andere Gruppe, die ein nachhaltiges und entschleunigtes Leben wählt.

Lower Se San II

Der Staudamm des Wasserkraftwerkes am Fluss Se San, einem wichtigen Nebenfluss des Mekong im Nordosten Kambodschas, wurde im Dezember 2018 fertiggestellt, nachdem der Bau 2013 begonnen hatte. Fast 5.000 Menschen, vorwiegend indigene und andere ethnische Minderheiten - Bunong, Brao, Kuoy, Lao, Jarai, Kreung, Kavet, Tampuan und Kachok - wurden durch den Damm vertrieben. (Human Rights Watch 2021)

Wie hast Du den Drehort ausgesucht?

Polen Ly: Ich würde sagen, dass es eine Verbindung zwischen mir und dem Ort gibt, auch wenn ich die Menschen dort vorher nicht kannte. Ich wurde in einem kleinen Dorf geboren, ebenfalls in der Nähe eines Flusses und eines Waldes. Als ich 30 Jahre später dieses Dorf entdeckte, erinnerte es mich irgendwie sehr an meine Kindheit. Auch wenn ich die [Bunong-] Sprache nicht spreche, habe ich dort etwas erfahren, mit dem ich mich stark verbunden fühle. Ich spürte diese starke Verbindung mit dem Land und den Menschen. Nachdem ich vier Jahre dort verbracht hatte [während der Dreharbeiten zum Dokumentarfilm], wurde es zunehmend persönlicher und ich fühlte mich noch tiefer mit den Themen, von denen mein Film handelt, verbunden.

Szene aus dem Film Further and Further Away
Einen letzten Tag im Dorf verbringen, bevor sich die Geschwister auf die Suche nach einem wohlhabenderen Leben begeben.

Unter welchen Bedingungen habt Ihr den Film produziert?

Daniel Mattes: Polen hatte schon lange an diesem Kurzfilmdrehbuch gearbeitet. Es gab bereits eine frühere Fassung davon, einige Szenen wurden schon 2017 gedreht, und als ich 2020 dazukam, hatte sich die Situation im Dorf bereits stark verändert. Das Land wurde inzwischen geflutet, um das Reservoir des Staudamms zu bilden. Es war unmöglich, das Filmmaterial aus der Vergangenheit weiterhin für unsere Dreharbeiten zu verwenden. Wir erhielten ein Stipendium des „Singapore International Film Festival's Southeast Asian Shorts“, aber dann kam die Pandemie. Damals dachten wir, dass der Film unbedingt bis Ende 2021 fertig sein müsste, weil wir glaubten eine Frist zu haben, um ihn auf dem Internationalen Filmfestival von Singapur zeigen zu können. Letztendlich wurde uns freundlicherweise eine Verlängerung für ein Jahr gewährt, und wir konnten den Film zunächst bei der Berlinale einreichen, was eine gute Wahl war.

Porträt von Daniel Mattes
Produzent Daniel Mattes.

Wir planten, eine richtige Filmcrew mit zehn Personen zu organisieren, um Polen zu unterstützen. Er war damals für letzte Recherchen im Dorf, als in der Provinz ein Lockdown ausgerufen wurde. Im Prinzip konnte er die Provinz nicht verlassen, weil es dort noch kein COVID gab und die Dorfbewohner sich abkapseln wollten. Ich schickte dann per Kurierdienst einige Tongeräte, Akkus und Festplatten zu Polen. Eine Kamera hatte er durch seine Recherche für den Dokumentarfilm dabei. Er versammelte die jungen Dorfbewohner*Innen, die Schauspieler*Innen, ihre Verwandten und andere Mitglieder der Gemeinschaft, die er kannte, und bildete ein kleines Team. Die Dreharbeiten dauerten länger als erwartet, weil Polen den Dorfbewohner*Innen nicht nur einen Crashkurs im Filmemachen, sondern auch im Teambuilding gab. So wurden aus vier Tagen schließlich zwei Wochen.

Polen Ly: Das war eine Menge Filmunterricht, der da stattfinden musste [lacht].

Habt Ihr noch Kontakt zu den Dorfbewohnern? Wie haben sich ihre Lebensumstände seither verändert? Welche Entwicklungen konntet Ihr beobachten?

Polen Ly: Ich habe immer noch Kontakt zu einigen Familien vor Ort. Sie leben nach wie vor in dem Umsiedlungsdorf. Einige der jungen Bewohner*innen haben geheiratet, und einige von ihnen sind in eine andere Provinz gezogen oder arbeiten an anderen Orten. Die meisten der älteren Menschen leben aber immer noch dort. Ich denke, das ist die Geschichte hinter „Further and Further Away“: Wenn einem das alte Dorf schon vertraut ist, und man dann sieht wie die Menschen im neuen Umsiedlungsdorf zurechtkommen, bekommt man irgendwie Herzschmerz. Man sieht wie sehr alte Frauen und Männer in ihren Häusern sitzen und nichts mehr mit sich anzufangen wissen.

Eine Frau sitzt in einem Boot
Das Dorf wurde durch den Bau des Wasserkraftwerks zerstört.

In den vier Jahren, die seit der Umsiedlung vergangen sind, haben einige Familien begonnen nach und nach ihre Lebensweise anzupassen. Manche von ihnen hörten auf, Reis zu produzieren und wurden beispielsweise Geschäftsleute, die einen Lebensmittelladen eröffneten. Für sie ist das Leben jetzt einfacher, sie müssen nicht mehr zur Arbeit auf das Feld gehen, weil andere Dorfbewohner*innen einfach zu ihnen kommen und bei ihnen einkaufen. Es ist schon etwas seltsam zu sehen, dass jemand, der früher mit Schlamm an den Händen gearbeitet hat, jetzt ein Mensch geworden ist, der dauernd Geld zählt.

Daniel Mattes: Die Regierung könnte behaupten, dass sie den Menschen einen besseren Zugang zu verschiedenen Einkommensquellen verschafft und sie sich somit nicht nur auf das Ackerland verlassen müssen, was manchmal schwierig sein kann. Das ist die Idee von der wirtschaftlichen Entwicklung, dass manche Menschen in den Handel einsteigen, anstatt in der Landwirtschaft zu arbeiten. Vielleicht ist diese Entwicklung gar nicht so schlecht, aber es ist definitiv auch eine Kommerzialisierung ihrer Lebensweise. Es geht nicht mehr um das gemeinschaftliche Leben, das sie vorher hatten, das Leben vom Boden oder vom Wald, sondern jetzt geht es darum, dass die Menschen mit Kapital zu tun haben, dass sie Dinge verkaufen, Bankkonten haben und all diese Dinge.

Blick aus dem Fenster.
53 Familien weigerten sich, ihr Dorf zu verlassen, und blieben vor Ort.

Die Produktionsfirma Anti-Archive, zu der Du gehörst, Daniel, produziert zeitgenössische kambodschanische und südostasiatische Filme von lokalen Regisseur*innen aus Südostasien. Kannst Du uns ein wenig mehr über die Filmszene in Kambodscha und die Arbeit von Anti-Archive erzählen?

Daniel Mattes: Die Filmszene ist relativ jung, hat eine sehr gute Dynamik und es gibt viele junge Filmemacher*innen im Teenageralter, in den Zwanzigern und Dreißigern, die voller Ideen sind und sich zunehmend der Möglichkeiten bewusstwerden, ihre Storys und ihre Fähigkeiten zu entwickeln. In Kambodscha dreht sich heute alles um die audiovisuelle Kultur, wenn es um Nachrichten, soziale Medien, Facebook und so weiter geht. Die Leute lesen leider kaum noch Zeitungen oder Bücher, aber es gibt die Möglichkeit, im kommerziellen Bereich zu arbeiten, Musikvideos oder Werbesports zu drehen. Und es gibt eine ganze Reihe von jungen Filmemacher*innen, die davon leben können. Gleichzeitig werden in Kambodscha im Jahr durchschnittlich etwa 30 Spielfilme gedreht. Die überwiegende Mehrheit davon, etwa 28, sind Horrorfilme, Gespensterfilme oder eine Art melodramatischer Liebesfilm.

Was die unabhängige Filmproduktion betrifft, so gibt es freie Filmemacher*innen wie Polen, die versuchen, ihren Weg zu gehen, verschiedene Produzent*innen treffen und mit ihnen zusammenarbeiten. Es gibt Leute, die mit dem Bopanna Center gearbeitet haben und von Rithy Panh und seiner Produktionsfirma betreut wurden. Und dann gibt es noch das Anti-Archive, das 2014 von Kavich Neang, einem kambodschanischen Regisseur, Davy Chou, einem kambodschanisch-französischen Filmemacher, und Steve Chen, einem taiwanesisch-amerikanischen Regisseur, gegründet wurde. Ursprünglich war es nur ein Vehikel, um ihre ersten eigenen Filme zu produzieren. Dann entwickelte es sich und wurde größer. Wir beschlossen, eine Spendenaktion zu starten, um Gelder für die Produktion von „Echoes from Tomorrow“ zu sammeln, einem Projekt, bei dem drei Kurzfilme von drei weiblichen Nachwuchs-Regisseurinnen produziert werden sollten, und wir sammelten innerhalb von fünfzehn Tagen fast 30.000 US $. Wir waren überwältigt, denn es hat uns gezeigt, dass die unabhängige Filmszene in Kambodscha von unseren Netzwerken im Ausland viel Unterstützung erfährt. Es war wirklich ein berührender und ermutigender Moment für das, was wir zu verwirklichen gehofft hatten.

Warum der Name Anti-Archive?

Daniel Mattes: Der Name der Organisation ist ein Hinweis darauf, worum es geht: Es ist nicht so, dass wir tatsächlich gegen das Archivieren sind. In einigen der Filme kommen sogar Archivfotos vor. Der Name ist eher eine spielerische Reaktion auf die Tatsache, dass es in Kambodscha sowohl im Land selbst, als auch beim Blick von außen auf das Land vorwiegend um das Leid der Vergangenheit oder um die Armut von heute geht. Vor allem in den Filmen von ausländischen Regisseur*innen, gibt es eine Menge Armutspornografie. Die Gründer des Anti-Archives haben sich diesen Namen ausgedacht, um zu zeigen, dass wir uns auch auf die Veränderungen und die Dinge konzentrieren können, die heute und in Zukunft in Kambodscha passieren - auf die Träume junger Menschen. Alle hatten es satt, Filme zu produzieren, die sich vor allem auf die Geschichte und das Leid beziehen, aber gleichzeitig war es auch nie unsere Absicht, die Vergangenheit zu vergessen. Die Filme des Anti-Archives haben immer versucht zu zeigen, dass die Vergangenheit in Kambodscha nach wie vor sehr präsent ist, aber eben indem sie sich auf die Darstellung der Gegenwart konzentrieren. Die kambodschanische Gesellschaft versucht so sehr, ein neues Kambodscha zu definieren, dass sie sich manchmal selbst vergisst - Anzeichen des Traumas oder wie es über Generationen weitergegeben wurde, aber auch die Art und Weise, wie die heutige Gesellschaft manchmal sogar Dinge wiederholt, die in der Vergangenheit passiert sind.

Eine Frau sitzt in einem Boot
Der Kurzfilm „Further and Further Away“ wurde dieses Jahr auf der Berlinale gezeigt.

All diese Themen tauchen im Laufe von Filmen  auf sehr unterschiedliche Weise auf, einige davon sind direkter, andere beziehen sich mehr auf heutige soziale Probleme, wie beispielsweise Zwangsräumungen in städtischen Gebieten. Manche Themen können auf neue Weisen dargestellt werden, oder dadurch, dass man sich mehr auf persönliche Beziehungen und Gefühle konzentriert, um zu verstehen, wie junge Menschen heute leben wollen. Die junge Generation ist die erste Welle von etwas Neuem; sie sind in der Lage, in einer völlig konfliktfreien Umgebung zu leben, erwachsen zu werden und ihre eigene Zukunft zu gestalten, ohne durch Konflikte eingeschränkt zu werden. Es gibt eine Menge großartiger Ideen da draußen. Und es ist aufregend, ein Teil davon zu sein.

Vielen Dank, dass Ihr Euch  die Zeit genommen haben, mit mir zu sprechen!